Das Werk der gebürtigen Südkoreanerin entsteht in einer Zeit persönlicher und kultureller Umbrüche in den 1970er Jahren. Mit dem familiären Umzug von Seoul nach New York im Jahr 1972 findet Lee ein künstlerisches Umfeld vor, das im Spannungsfeld von Minimal Art, Konzeptkunst und den Anfängen der Videokunst das experimentelle Denken und die Erweiterung traditioneller Bildsprachen fördert. Das frühzeitige Interesse der Künstlerin an der nicht-figurativen Abstraktion und wie diese «kommuniziert und verstanden» wird[3], führt sie nach Zeichenstudien 1976/77 in Kalifornien ab 1979 an das Pratt Institute in New York und 1980 kurzzeitig nach Italien, wo sie sich intensiv der ungegenständlichen Malerei und Zeichnung zuwendet. Grundlage für ihre Arbeiten sind eingehende Materialerkundungen, die Qualitäten, Wirkungen und das Zusammenspiel unterschiedlicher malerischer und zeichnerischer Mittel sichtbar machen. Aus diesen Untersuchungen entwickelt sie zwei grundlegende Techniken, das Zeichnen in Öl- und Acrylbildern sowie das Malen in Graphit- und Pastellzeichnungen. «Zeichnen – und es wie Malerei erscheinen lassen»[4], fasst Lee diese bewusste Grenzverwischung zwischen beiden Medien zusammen, durch die neue Formen bildnerischen Vokabulars entstehen. Im Zusammenspiel dieser feinen, Schicht um Schicht aufgetragenen geometrische Bildmotiven entwickelt sie eine Bildsprache, in der das Intuitive und Rationale ineinander übergehen und eine fragile Balance zwischen Empfindung und Struktur entsteht.
In der Präsentation «Geometric Presence» übersetzt Lee eindrucksvoll das Konzept von Harmonie und Ordnung des Kosmos in eine sinnliche Raumerfahrung für die Betrachtenden. In einer Serie von zwölf kürzlich entstandenen, in Pastell auf Leinwänden geschaffenen Gemälden verarbeitet die Künstlerin das Spiel von Dämmerung und Nacht, die Reflexion der Sonne auf Wasser und entferntes Licht von Booten und Häusern zu abstrakten Bildwerken. Mit Werktiteln wie «Falling Ellipsoids», «Drops of Presence» oder «Reverberate» verdeutlicht sie die auch im Ausstellungstitel bereits angedeutete «lebendige Präsenz»: schwebende Formen treten in Beziehung zueinander, gehen ineinander über, bewegen sich nebeneinander und lösen sich voneinander. So entstehen aus der zweidimensionalen Malerei geheimnisvolle, entrückte und sphärische dreidimensionale Welten. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die charakteristische kreidig-pastose Textur der Werke, die von zarten Pastell- bis hin zu Dunkeltönen zu einer subtilen, atmosphärischen Tiefe führt. Mit dem elliptischen Format der Leinwände verstärkt die Künstlerin die Wirkung ihrer Bildinhalte und unterstreicht die aussergewöhnliche Balance zwischen malerischer Tiefe, Farbenergie und räumlicher Wirkung.
Wir freuen uns, mit «Geometric Presence» exklusiv von der Künstlerin ausgewählte Werke für Häusler Contemporary zu präsentieren. Mit dieser Werkgruppe zeigt Lee die Dichotomie zwischen konzeptuellen Ideen und dem materiellen Prozess der Bildherstellung. Auf besondere Weise verbindet die Künstlerin metaphysische, nicht-gegenständliche Konzepte mit dem materiellen Akt der Bildherstellung und macht sichtbar, wie das Unsichtbare durch Form und Materie Ausdruck finden kann.
(Susanne Kirchner)
Vgl. Ronny Cohen, in: Kyung-Lim Lee, Transposition, Katalog anlässlich der Ausstellung “Transposition – Kyung-Lim Lee,” Domkirche Maria Geburt & St. Korbinian und der Johanneskirche Freising, 3. Juni – 26. September 2021, S. 16